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Das Berliner IndianerdorfKesselberg

Berlin im Mai 20!!, DG

Müdigkeit, Erschöpfung, die Überflutung mit neuen Eindrücken, das von einem Event zur nächsten Aktion Fahren, bewirkte ein Hinaus Geworfen Sein in die Weite der urbanen Landschaft. Mithin ging es Uli Hartmann, unserem Berliner Korrespondenten, um ein vernünftiges, ein lebbares, ein erfüllendes und nicht um ein erschöpfendes Sein in der großen Stadt mit ihren vielen Angeboten.

Dementsprechend kamen Uli immer wieder die Erinnerungsbilder hoch von seinem Besuch in der Lebensgemeinschaft Kesselberg. Allein die Fahrt mit der S3 nach Erkner hatte aus dem Stadt Zentrum fast eine Stunde gebraucht. Er befand sich auf dem Land: Erkner, ein Vorort, dann Wiesen, Felder, Bäume, Seen, Flüsse. Mit dem Fahrrad brauchte er noch einmal eine halbe Stunde bis er auf der Landstraße eine Bushalte mit Namen Kesselberg entdeckte. Ein Waldweg aus Betonplatten führte eine seichte Anhöhe hinauf. Links und rechts brandenburgische Wälder, das sind vor allem Kiefernwälder auf hellen Strandsandböden, die im Halbschatten der niedrigen Bäume von einem flaumartigen Grün hoch stehender Gräser bedeckt sind. Zusammen mit den sanft geschwungenen Anhöhen ergab das eine liebliche Landschaft.

In der Ferne tauchten LKWs auf, geparkt am Wegesrand, dann ein Bauwagen. Uli realisierte, dass das Wohnmobile waren in denen Leute lebten. Ein Kind auf einem Fahrrad bog auf den Waldweg ein. Es kam von einer Art Feuerstelle unter einem Zeltdach, das einem der Wagen vorgespannt war und fuhr in Richtung eines Hauses, das ganz im alten DDR Stil grau verputzt, kaum irgendeine Försterhaus und Waldromantik aufkommen ließ. Links, an einem der Wagen, sah Uli eine Frau mit irgend etwas beschäftigt. Sie schaute weder nach ihm noch grüßte sie, dementsprechend wich auch Uli einem näheren Blickkontakt aus. Wo war er hier? Das Haus schien eine Art Bürohaus zu sein, so etwas wie die Verwaltung mit der Pförtnerloge auf einem Campingplatz. Er stellte sein Fahrrad an der Veranda ab und ging hinein. Die Tür zu dem Zimmer, das er als Büro ausgemacht zu haben meinte, war verschlossen. „Hallo!", rief er in die stille Leere des Hauses. „Ist da jemand?“ Eine Tür auf dem Gang ging auf. Eine Frau, deren Henna rot eingefärbtes Haar graue Strähnen zeigte, erwiderte spöttisch: „Ja, hier ist jemand.“ Offensichtlich kam sie vom Klo. Das gab es also doch. Wie sollte er beginnen? Was wollte er? Wer war er? Schon als er los fuhr, hatte er sich ernsthafte Gedanken über seine Kleidung gemacht. Schicklich wäre es gewesen in Klamotten aufzuschlagen, die was abkonnten, da er am Abend jedoch zum 1. Mai Empfang der Gewerkschafter in den Großen Saal des Roten Rathauses wollte, hatte er einen kleidungsmäßigen Kompromiss zu finden, wobei ihm klar wurde, um so mehr er sich wandte, diesen in seinem Outfit zu finden, um so weniger würde es ihm gelingen. Erst hinter her wurde ihm deutlich, dass es keinen Kompromiss gab. Die Gewerkschafter und das Berliner Establishment mit seinen Empfängen und Pressekonferenzen war genauso ausschließlich und unnachgiebig wie diese Leute, die sich an die urbane Peripherie abgeseilt hatten in eine alternative Exklave. Entweder du gehörst zu den einen oder du gehörst zu den anderen. Ein Dazwischen gibt es nicht. Uli beschloss, wenn er weder ganz zu den einen und auch nicht ganz zu den anderen gehören konnte, zu beiden aber wollte, dass er dann eben er selber sein würde und es jeweils zu tragen hätte eben nicht, schon vom rein äußerlichen, dazu zu gehören. Kleider machen Leute, gewiss. Mit seinen fünfzig Jahren war er zudem so oder so in einem Alter, das ihn von den meist jüngeren in diesem Camp unterschied.

Die Frau vor ihm hieß Christina. Uli stellte sich vor als jemand, der mit seiner Partnerin auf Lebensgemeinschaftssuche sei. Ihm fiel auf, dass Christinas Hände und Fingernägel schmutzig wie von Gartenarbeit waren, andererseits war er sich dessen gar nicht so sicher, denn die hygienischen Verhältnisse waren unklar. Es konnte schlicht auch der Dreck von Tage langem Nicht Waschen sein. Das stand jedenfalls im Verhältnis zu seinem städtischen Chick, so als hätte er gerade den Wagenschlag seines BMW Sport Coupés hinter sich zugeschlagen, um sich nun ein Eis am Stiel vom Eiswagen am Straßenrand zu holen. OK, an diesen Unterschieden ließ sich nichts ändern. Was wollte er? Christina erzählte ein wenig: Es seien ca. 40 Leute auf dem Platz. Mittlerweile sei es problematisch mit Stellplätzen für Bauwagen, auch in den zwei Häusern würde es eng, zumal nun die Sommersaison bevorstand und immer mehr aus der Stadt raus kämen. Uli hörte zu, kam sich aber voll blöde vor in die Rolle des Fragenstellers gedrängt zu sein, eben ein Tourist, dem man ein paar Brocken an Infos hinwarf bis er dann seine Brieftasche zückte, einen Schein da ließ und abdampfte. Also schwieg er und stellte keine Fragen, was unweigerlich zu dem dumpfen Gefühl führte, das er beim Community Building kennen gelernt hatte. Mist! So blöd war er doch gar nicht. Wie das hier liefe, fragte er. Ob er einfach mit seinem Schlafsack kommen könne? Christina schaute ihn leicht zweifelnd, spöttisch an, meinte er, in Wirklichkeit aber blieb ihr Blick undurchdringlich und verriet keine verräterische Spur irgend eines Sentiments. Es war also ganz bei ihm, was er hier machte. War es das wirklich? „Ja, du kannst einfach mit deinem Schlafsack kommen. Manchmal wird es aber noch kalt, eine Decke wäre nicht schlecht. Oben, im Haus, gibt es noch Schlafplätze.“ Uli staunte, er konnte sich das nicht vorstellen. Er sei arbeitslos, erzählte er, und suche mit seiner Conny eine Lebensgemeinschaft im Raum Berlin, deshalb sei er vorbei gekommen. Christina nickte. Anmelden beim Ordnungsamt könne er sich hier nicht, das sei kein offizieller Wohnort. Wenn die vom Amt kommen, dann heißt es, dass wir hier arbeiten und gelegentlich mal auf dem Platz schlafen. Das können die nicht überprüfen. Ja, das Ganze sei als sozio-ökologisches Projekt deklariert. Uli meinte ausmachen zu können, dass die Leute einige Bauwagen Erfahrungen hatten. Christinas Haut sah nicht nur von frischer Luft gesund braun aus, vielmehr hatte ihre Gesichtshaut etwas lederartiges. Lag das an der Ernährung? Am Dreck? An der Kälte im Winter? Zwei Frauen kamen den Weg herauf. Sie waren mit Ruck- und Schlafsäcken bepackt. Frische Ankömmlinge. Ob Lelith da sei? - Ja, hinten, an der Feuerstelle. - OK, ob noch Platz zum Schlafen sei? - Lelith zeigt es dir. Bis nachher. Es seien zwei Kolumbianerinnen da. Schamaninnen. Sie malten gerade ein Bild an der anderen Hausseite, dazu machten sie einigen Hokuspokus, Rituale, mit Feuer und Weihrauch, erzählte Christina. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, ich mache da nicht mit. Geh und guck du es dir an. Offensichtlich hatte sie genug von Uli. Am Feuer ist jetzt das Mittag fertig. Nimm dir was und nachher gibst du eine Spende für unseren Einkauf. Hier gibt jeder so viel rein, wie er kann, manche geben gar nichts, das tragen wir dann. Damit verabschiedete sie sich und ließ ihn stehen. Uli zog sein Jackett aus, von dem offensichtlich sein Sport Coupé Chick ausging, legte es in den Fahrrad Korb, dabei sich sicher seiend, es würde nicht geklaut und ging den Waldweg hoch zur Feuerstelle. Die rückwärtige Hauswand war tatsächlich bemalt, so etwas wie ein kahlköpfiger Adler breitete seinen Schwingen aus.

Das Feuer schickte einen feinen Qualmfaden in den Himmel, Baumstämme als Sitzgelegenheit, einige Leute, Männer, Frauen, Kinder, kleine Kinder, nackt, eins war strohblond, ein Hund streunte umher, Uli wurde keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Er kam, sah und fragte sich, wo war er hier? Er hatte so etwas schon mal gelesen. Claude Levi-Strauss' Reisebeschreibung aus den Traurigen Tropen, nur dass das hier keine ethnologische Expedition war. Unvermittelt war er in ein Indianerlager geraten. Wie konnten die nur so leben? Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen von seinem Erschrecken, das zwischen Ekel und Mitleid schwankte. Einerseits hätte er am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, andererseits …? War es der lange Weg gewesen, die Mühe, die er sich gemacht hatte, um hier her zu kommen und die durch sein Weggehen vergebens gewesen wäre? Oder war es vielmehr die Wahrnehmung einer latenten Angst und Unsicherheit, die sein Weggehen zu einer Flucht gesteigert hätte. Nein, so ja nun nicht. Er brauchte keine Angst zu haben. Erstkontakt. Archaische Gefühlswelten, Zurückgeworfenheit auf nur noch er selbst gegenüber allem anderen Gleich er im Zentrum der Welt, die sich nur um ihn drehte sich alles, welch Quatsch dachte Uli, die nehmen mich doch gar nicht wahr oder tun zumindest so, was bedeutet, dass ich so wichtig nun auch wieder nicht bin. Er suchte sich einen Platz neben einer Frau auf einem abgesägten Holzstamm, zog den Rucksack von den Schultern und stellte ihn daneben. Wer würde ihn ansprechen? Mit wem würde er Kontakt aufnehmen? Was ging hier ab? Wer unterhielt sich mit wem? Der Hund kam, ein schwarz-weißer Zottel, beschnüffelte ihn und wollte spielen, wobei er mit Bestimmtheit ein Stöckchen holte und demonstrativ, fast mit einem gefährlich klingenden Knurren vor ihn hinlegte. Uli bezwang sich seinerseits und beachtete ihn nicht weiter. Er solle sich auch etwas zu Essen nehmen, meinte die Frau aufstehend und ging hinüber zu einer Spüle ohne Überdach bei der Geschirr abgestellt war, auf der anderen Seite gleichfalls ohne Überdach die Kochstelle mit riesigen Töpfen. Uli wartete, zum einen mochte er nicht so gleich über das Essen herfallen und zwar aus lauter Verlegenheit, was nun mehr zu tun wäre, zum anderen, was hatten die gekocht und war das genießbar. Wieder dieses unbestimmbare Ekelgefühl vor Schmutz, Hund, Fliegen, ungewaschenen Händen, die er nicht kannte. Vielleicht tat er den Leuten damit Unrecht und außerdem konnte er selber sterile Hygienephobien nicht ausstehen, am wenigsten bei sich selbst. Die Wasch- und Putzmittel, die Seifen und Deodorant und die Du bist dann noch Schöner Werbung fand er schrecklich. Wo war das Mittelmaß? Er lachte über seinen Ruf nach der Mittelmäßigkeit.

Unter einem provisorisch anmutenden Zeltvordach schaute ein Typ herüber, neben ihm saß eine junge Frau und eine ältere. Der Typ schaute nach Urlaub aus: Shorts, T-Shirt, Bewegungen, die keine Hast kannten. Ja, hier ging die Zeit anders, langsamer, wie im Urlaub, scheinbar, denn dann war das ein besonderer Urlaub: Überlebenstraining in der Wildnis. Uli fasste sich ein Herz, stand auf und setzte sich rüber. Er hieße Uli und sei mal schauen gekommen, was das hier auf dem Kesselberg sei, meinte er. Das reichte. Der Typ hieß Dirk, blond, blitzende Zähne, gut aussehend, kraftvoll, auch er hatte diese Leder gegerbte Haut. Er lebe hier, hätte den Winter auf dem Kesselberg zugebracht: Hard times, aber das sei jetzt vorbei, Tauwetter, jeden Tag kämen mehr Leute. Es müsse Holz geholt werden. Er sprach Uli nicht direkt an und auch so, als handele es sich um ein Vergnügen im Wald nach Holz zu suchen. Es war der Tonfall von Erlebnispädagogik, die den verwöhnten Städtern durch Anpacken klar machen wollte, woher die Energie fürs Essen kam. Unwillkürlich fühlte er sich an Henry David Thoreau's "Walden oder Leben in den Wädern" erinnert. Uli ging darauf nicht ein, vielmehr schaute er zu der Schamanin hinüber, die sich nicht unweit auf einer Decke im Sand liegend von einer Freundin massieren ließ, wobei diese auf Spanisch vom Cruz del Sur erzählte, dessen geomantische Linien über den Camino de Santiago direkt an Berlin vorbei hier auf dem Kesselberg einen Kreuzungspunkt hätten, weil alle dreißig Kilometer das herab tropfende Blut der heiligen Jungfrau die Himmelsbäume wachsen ließ und derart die Verbindung hergestellt sei zu den Sphären der indianischen Vorväter, die im übrigen auch die Vorfahren der hiesigen, nämlich der keltischen Vorfahren seien, die sich an diesem Platz ihr besonderes Wirkfeld erhalten hätten, weshalb wir schließlich hier wären. Oh, das war Himmelsmusik in Ulis Ohren. Das war eine echte Gegenwartskosmologie einer indianischen Seherin, die selbst das klösterliche Leben der Enthaltsamkeit in sich aufgenommen hatte, nicht nur um der Hexenverfolgung zu entgehen, sondern um das Geistesgewölbe des Seins in und durch ihre Person an diesem Ort in genau dem Moment zur Wahrheit zu verhelfen, als er neben ihr sitzend zuhören und verstehen konnte, dass der Adler an der Hauswand tatsächlich der große Condor sei, der die Träume und die Visionen von der Zukunft aus den höchsten Höhen der Gottheit herab bringe zu uns, seinen Kindern, denen es dann obliege sie umzusetzen und Wirklichkeit werden zu lassen, was die klarste Schau göttlichen Seins uns offenbarte. Währenddessen stromerte der Hund unter einem Zeltdach anbei herum, wobei er das dort liegende Gemüse und Obst beschnüffelte. Trotzdem stand Uli auf und ging zum Essenstopf hinüber. Es gab schwarze Linsen mit Karotten und Blumenkohl in fadem Wasser, dem zwar das Salz nicht fehlte, dafür aber jede Spur tierischen Fettes abging. Es schmeckte einfach … gut und ihm schienen einige anerkennende Blicke zu zu kommen, so, als habe er eine gewisse Mutprobe der Zugehörigkeit bestanden.

Inzwischen meinte er mitbekommen zu haben, dass sich die Leute auch nicht weiter kannten. Im Grunde war das ein loser Haufen. Dirk hatte erzählt, es gäbe keine offiziellen Versammlungen oder Gruppen, die Dinge entstünden einfach oder eben nicht. Uli hingegen fragte sich, was einen Indianerstamm, bestehend aus lauter erwachsenen, selbstständigen Menschen, die mehr oder weniger in ihrer natürlichen Umwelt, was und wo immer die auch sein mochte, zurecht kamen, eigentlich zusammen hielt, wenn nicht Rituale, die Not, die Kinder und Blutsbande. Überhaupt: Zivilisation, die höchsten Errungenschaften menschlicher Kultur, waren doch nichts anderes, als eben diesen Zusammenhalt zu bewirken, vor allem durch das Versprechen eines qualitativ besseren Lebens.

Bevor er aufbrach, denn es war doch schon Zeit geworden für den Gewerkschafter Empfang im Roten Rathaus, der sich als nichts anderes als eine verkappte Wahlkampfveranstaltung des amtierenden OBs entpuppte, wollte er noch sein Essensgeld loswerden, ein Unterfangen, dass nicht ohne ein gewisses Schamgefühl von statten ging, denn er konnte es nicht lassen mehr geben zu wollen als die veranschlagten zwei Euro für den Eintopf, so als ob gerade er ein großer Spender hätte sein können, der sich nun mit seinem Eis am Stil auf den Rückweg zu seinem Sport Coupé machte, dabei das Wohlgefühl im Bauch, mit einem kurzen Ausflug vor die Tore Berlins die sagenhafte Strecke bis hin in ein amazonisches Indianerdorf zurück gelegt zu haben, wobei er sich durchaus auf den Spuren Bruno Mansers in einem Basislager der postmodernen Gesellschaft nicht weit von den neuen Armutssiedlungen nordamerikanischer Städte befunden hatte, deren Betreten bekanntlich auch einigen Mut erforderte für jene, die es noch nicht aus den Luxussesseln des Systems geschleudert hatte.




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