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Leistungsbruch
oder
auf
der Spur zur Glückseligkeit samt Rechnung
Leipzig
im
Februar
2011, DG
Die
OP
des
Leistenbruchs, ambulant in einer Privatpraxis, Umkleide in
einer Abstellkammer, eine ältere Schwester kniete sich vor mich hin
und schert mir die linke, obere Hälfte der Schamhaare weg,
wahrscheinlich zu wenig, denn nun, am Tag danach, ist ein dickes
Pflaster zum Teil auf den Schamhaaren und ich fürchte, wenn der
Chirurg morgen seinen Hausbesuch macht, dann wird es empfindlich
schmerzen, wenn er das alte Pflaster abreißt. Es ist derselbe Arzt
den ich bei der Voruntersuchung
als Macho erlebte und zwar vom feisten Typus Untertan des Heinrich
Mann, weil er in Gegenwart seiner Assistenzschwester, von seinen
Mädels sprach, die sich um mich kümmern würden.
Diesmal,
am
Tag
der OP, erschien er mir nur freundlich und nett, dynamisch und
voller Lebensfreude, so wie auch sein Kollege, der Anästhesist. Sie
hatten etwas zu tun, etwas „gutes“, sinnvolles, verdienten Geld
und waren im Team mit anderen Leuten, den Schwestern, zusammen, was
nicht hinreicht, die gute Stimmung zu beschreiben von der sie beseelt
schienen, wenn sie leichten Fußes durch die sterilen OP Räume der
Privatpraxis eilten, um die Vorbereitungen für den Eingriff zu
treffen, vielmehr hatte es etwas von einer Feststimmung, einem
Fleisch und Blutfest, wofür ich das Opferlamm abgab, das nun auf die
Schlachtbank kam, immerhin betäubt.
Es
ging
schnell.
Erst setzten sie mir einen Schmetterling, eine Kanüle
in die Vene auf dem rechten Handrücken, um mir intravenös ein
Schmerz und Schlafmittel zu verabreichen. Später, wenn ich das
Bewusstsein verloren hätte, würden sie mir eine Narkosenmaske
aufzusetzen. Über mir, der ich dort nackt in einem grünen OP Kittel
auf einer schmalen OP Liege lag, eine Scheinwerfer Lampe, wie sie
auch bei Zahnärzten mit Dreharmen zu finden war. Die Schwestern
kleideten sich steril ein, es wurde gescherzt, eine Geschäftigkeit
eingeübter Handgriffe, die gleichzeitig abzuwarten schien, bis auf
dass ich weg- und abgetreten wäre. Gleichzeitig sackte ich mit einem
Wohlgefühl durch zur Empfindungsebene des wahren Wesens allen
menschlichen Lebens. Ich kenne diese Bewusstseinslage. Ein guter
Joint führt ultimativ genau in dieses Erleben eines Seins, dass
wahrer, echter, vollkommener, glücklicher, seliger ist als das
übliche, geschäftige Treiben ringsum. Manchmal stellt sich dies
Gefühl auch nach einem tief gehenden, vollkommenen Orgasmus in der
liebenden Umarmung des Verschmolzen Seins mit dem anderen ein. Die
Atmung ist voll und ruhig und wie aus sich selbst heraus, die Farben
der Umgebung wirken kräftiger und die Stimmung ist gelöst heiter.
Vor allem jedoch ist es diese Atmung aus sich selbst heraus. Ich
versuchte dem
Anästhesisten,
der
bei
mir stand, zu erklären, was vor sich ging. Mir war, als
würde er nur abwinken, so als wäre es das Gelalle eines
Betrunkenen. Es war die Abwertung, die Entwertung, die in die
Einflugschneise zur Glückseligkeit, wo sich also die Tore zum Reich
der Freiheit öffnen, hinüber schallte aus dem Reich der
Notwendigkeiten, dass auf keinen Fall zulassen konnte, was ihm da
jemand verständlich zu machen suchte, nämlich dass die Menschen mit
ihrem dortigen Bewusstsein falsch lagen. Ihre Geschäftigkeit war
zwar nützlich, sinnvoll, praktisch gut, doch vorbei am wahren Sein
der Glückseligkeit. Sie bräuchten doch nur still zu sein, inne zu
halten und zu lauschen, ihrem Atem, ihrem Herzen, und sie würden die
Wärme ihres Leibes spüren und wie sich in und aus ihrem Bauchgefühl
heraus langsam und allmählich der Strom der Seligkeit
ausbreitete
und
sie und alles um sie her erfasste und einbezog in den
Atem der unendlichen Liebe Gottes.
Während
ich
diese
Gedanken klar und deutlich in mir klingen hörte und
mitzuteilen
suchte, merkte ich doch, dass meine Stimme sich seltsam einzutrüben
begann, auch meine Denke verlangsamte sich schlagartig. Was soll denn
das?, war meine gereizte Reaktion. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich
kann
noch
ganz anders, ich
bin
sehr
wohl Herr meiner Sinne. War das mein letzter Gedanke? Denn
ich erinnere mich nicht mehr, wann es „dunkel“ um mich wurde,
wobei das Wort dunkel falsch ist, denn da war einfach auch keine
Dunkelheit mehr, sondern einfach nur Nichts, übergangslos,
schlagartig, plötzlich.
Auf
wachte
ich
wieder in dem kleinen Abstellzimmer, ohne dass ich ein
Gefühl für die vergangene Zeit gehabt hätte. Der Anästhesist kam
und meinte fast an der Grenze zum Unfreundlichen und Groben:
Aufgewacht! Aber bleiben Sie noch liegen. Es war kühl in dem Zimmer
durch dessen Längsmitte nun ein orangefarbener Plastik Jurte Vorhang
gezogen hing. Es wurde eine ältere Frau herein gebracht und ich
hörte, wie sie hingelegt wurde und stöhnte. Selber befand ich mich
noch in einem Zustand des Erwachens, eigentlich klar und Putz munter
und andererseits schläfrig müde. In
den
Schlaf
und Traum fand ich
nicht
mehr
zurück, vielmehr, obwohl ich schmerzfrei betäubt war,
fühlte ich mich zerschlagen, geschunden, wund, ganz unleidlich
in
mir,
in meinem Körper. Der kühle Raum, diese Abstellkammer, voll
gestopft mit Gerätschaften auf Regalen, die offene Tür hinaus in
den Flur und OP Saal, wo einiges Getriebe geschäftiger Schwestern
keinen Zweifel ließ, dass das Leben und die Arbeit weitergingen,
zeigte sich ebenso unerträglich wie ich es selbst in und mit mir
war. Woher kannte ich dieses unleidliche, ungehaltene Gefühl? Ich
stellte mir ein Kleinkind vor, das weinend und wimmernd nach seiner
Mama rief, die aber nicht kam. Das war Mitleid erregend, es erfasste
aber nur von außen meinen Zustand, der vor allem der meines Körpers
war: Allein gelassen, frierend, die Schmerzen weg betäubt, und doch
wie unter einer Dunstglocke die wahren Empfindungen der Verletzung
und ihrer Schmerzen spürend. Ich wollte nur weg, raus und konnte,
durfte nicht, hatte der Herr Doktor mir die Erlaubnis, sprich den
Befehl doch noch nicht gegeben.
Eigentlich
meinte
ich
mich schon in der Lage aufstehen zu können, andererseits
spürte ich noch Benommenheit und dieses Ganze einer Situation nahm
kein Ende, zog sich und hörte nicht auf. So war die Hölle:
unerträglich bis in alle Ewigkeit. Das war vor allem die Rechnung,
die mir das Sein ausstellte für die Seligkeit zuvor. Da war es doch
nur vernünftig auf das paradiesische Sein im Himmelreich zu
verzichten, wenn darauf hin diese nimmernie endende Hölle folgte.
War das vielleicht auch der tiefere Grund, nicht weiter auf mein
Glückseligkeitsgelalle zu hören? Ich solle aufstehen und mich
anziehen, meinte der Anästhesist. Es war ein Rausschmeißerton.
Früher hatte man Männer nach einer Leistenbruch OP fünf Tage im
Krankenhaus behalten – heute ging es so. Welch Fortschritt und so
Kosten günstig.
In
der
Tür
zum Warteraum der chirurgischen Privatpraxis empfing mich
Conny, stützte mich und half mir beim Anziehen der Jacke. „Sie
haben mich nicht zu dir rein gelassen“, raunte sie mir
entschuldigend zu, „wegen der Sterilität.“ - „Und? Haben sie
dich nun doch von der Arbeit gehen lassen, damit du mich abholen
kannst?“ - „Nein, wegen des Versicherungsschutzes könnten sie es
während der Arbeitszeit nicht erlauben.“ - „OK, dann ist ja
alles klar.“
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