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Die Frühjahrsmesse

Mitte März 2010, Leipziger Buchmesse, von Dirk Glomptner

Logo Leipziger BuchmesseZiemlich geschwächt von ihrer fünf tägigen Fastenkur und deshalb lediglich mit einer Tasse Tee bestückt, stand Sabrina an einem Stehtisch und diskutierte mit erst zwei, dann drei Herren, Presseleuten, ein älterer mit seinem jüngeren Kollegen vom MDR und schließlich mit Unternehmenssprecher Tack von der Leipziger Buchmesse. Im Grunde war ihre Diskussion ein Rundumschlag, ein Blitzlicht des versammelten Kollektivbewusstseins zur gegenwärtigen Gesellschaftslage im Anschluss an die Eröffnungspressekonferenz. Der ältere MDR Kollege referierte seinem jüngeren Partner die Bedeutung eines Schlagzeilen verursachenden Buches, dass als Plagiat, als Abschrift von Tagebuchaufzeichnungen eines Lebemannes dieser Tage Furore machte. Gerade als älterer Mensch würde er mitbekommen, was bei den jüngeren abging und deshalb sei die ganze Schmäherei und Auseinandersetzung um die junge Autorin Quatsch. Sabrina hatte von dem Skandal entfernt gehört. Es war ihr peinlich, weder den Namen der Autorin zu erinnern, noch genau zu wissen, worum es bei der Sache ging. Als Medienmensch hatte sie auf dem neuesten Stand der Informationsgesellschaft zu sein, wollte sie mitreden. Anstatt dessen versuchte sie ein anderes Thema, das ihr unter den Fingernägeln brannte, einzubringen. Nebenbei nur fiel ihr auf, dass sich das Zwiegespräch der beiden Rundfunkleute durch ihr Hinzutreten und Fragen in eine offene Austauschrunde nach der EröffnungsPK zur Leipziger Buchmesse umgestaltete. Es gab offensichtlich ein allseitiges Bedürfnis sich nach dieser eher verhaltenen PK auszutauschen, sprich danach herauszufinden, wo es lang ging bei dieser Messe des in Buchform gebrachten Geistes. In der PK drehte es sich vor allem um geschäftliche Fakten rund um den Buchhandel. Das waren Themen für Wirtschaftsleute. Sabrina hatte kaum Aktien in ökonomischen Dingen, insofern gingen Meldungen, wie die von Honnefelder, dem Vorsteher des Börsenvereins, nur die größeren Verlage hätten vom drei prozentigen Marktzuwachs des Buchhandels im vergangenen Jahr profitiert, glatt durch ihre Maschen. Was vielmehr ihre Phantasie frei setzte war seine professorale Behauptung, sowohl der digitale als auch der Hardcover Markt wüchsen, wobei er nicht sagte: quasi in Abhängigkeit von einander. Es sei ein Irrtum, elektronische Bücher würden den Buchhändlern schaden, ganz im Gegenteil. Eine Ersetzung des Papierbuches sei nicht in Sicht. Sabrina malte den Rundfunkleuten am Stehtisch aus, wenn die Automatisierung weiter voran schritte, so könnte es doch ein leichtes sein, dass ein Kopyladen an der Ecke mit dem richtigen Programm in den Kopierern in der Lage wäre, preisgünstigst ein digitales PDF Buch als Hardcover raus zu lassen. Konsens bestand darin, dass es unbequem sei, ein Buch per Laptop zu lesen, selbst wenn es mittlerweile Kleinst PCs in Buchgröße gäbe. Ob sich das ab April durch das von Apple auf den Markt kommende iPad ändern würde, konnte sich offensichtlich niemand außer Honnefer richtig vorstellen.

Themenwechsel als Unternehmenssprecher Tack mit einem leckeren teller erlesener Köstlichkeiten vom Buffet an den Stehtisch tritt. Sabrina läuft das Wasser im Mund zusammen, wobei ihre Augen die gefüllte Gabel Tacks auf dem Weg zum sich öffnenden Mund verfolgen. Welche Promis eröffnen denn die Messe am Abend im Gewandhaus? Und nachschiebend : Ja, und wer kommt denn aus Berlin?, fragte sie Tack neidisch auf sein Essen. .... Niemand, man hätte zwar angefragt, aber man sei auf kein Interesse gestoßen. Yep, meinte der ältere MDR Kollege, so sieht es seit dem Regierungswechsel 2005 aus: Der Staat zieht sich zurück und nun noch mehr, wo die FDP dran ist. .... Stimmt, meinte sein jüngerer Kollege, damals hatten die Politiker den Menschen noch etwas zu sagen, es gab öffentliche Diskussionen, einen Austausch zwischen den Machern da oben und den Menschen. Heute findet alles hinter verschlossenen Türen und in geschlossenen Zirkeln statt. Tack hingegen beharrte darauf, dass so einige Promis kämen, allerdings seien es nicht mehr die Bundespolitiker, sondern die Autoren. Bei Rot-Grün wären diejenigen, die wirklich etwas zu sagen hatten, die Fachleute und Künstler, doch nur weg gedrängt worden von der Medienmacht des Staates, sprich beiseite geschoben worden von den politischen Großmäulern, die an nichts anderes dächten als an ihre Wiederwahl. Es ist schon gut so, dass die sich nicht mehr so vordrängen. Wir sind doch auch jemand und der Autor und Sie, wobei er Sabrina fest in die Augen schaute, um sich dann flambiertes Hünchenschenkel mit Reis und Gemüse auf die Gabel und in den Mund zu schieben. Ja, die Leipziger Messe ließ sich ihr gutes Image etwas kosten. Sabrina bedauerte sehr, nicht selber von dem herrlichen Buffet kosten zu können, es war ihr letzter Fastentag und sie wollte sich selber treu bleiben. Morgen käme das Fastenbrechen mit einem gedünsteten Apfel und am Abend Gemüsesuppe mit festeren Bestandteilen und dann die Premiere von Die 4. Revolution, ein Umwelt Doku zum Thema Energie, das in seiner Aufmachung Al Gore´s Inconvenient Truth nachempfunden schien. Sie fragte sich, ob diese Relativierung, dieses in eine Reihe Stellen des Films, nicht zugleich auch eine Herabwürdigung des Films war. Als Nachahmung fehlte ihm der Impetus des Neuen und Revolutionären. Sie wollte ihn aber nicht herabwürdigen, sie war gegen AKWs und übermäßigen Straßenverkehr. OK, und heute Abend die Eröffnungsveranstaltung der Messe im Gewandhaus, wahrscheinlich wieder mit einem Buffet von dem sie nicht essen durfte. Der sächsische Ministerpräsident Tillich käme und Tiefensee, ein Ex-Minister aus Leipzig. Ein Heimspiel sei das für den, meinte Tack, wobei sich Sabrina fragte, worum er wohl spielen mochte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tiefensee noch eine Karriere, zum Beispiel als Sächsischer Ministerpräsident, vor sich hatte.


Festakt zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse

Leipziger Gewandhaus, 19 Uhr, 17. März 2010, DG

Sabrina hatte nur eine Pressekarte bekommen. Ihr Freund Michael würde nicht mitkommen können. Mist! Sie hätte sich gefreut. Auch wenn er immer sagte, er habe keine Zeit, keinen Bock auf solche Veranstaltungen zu gehen. Nicht nur dass er die High Society mit ihren Events ablehnte, schlicht weil er dort ein Nobody war, sondern weil er als ordinärer Zuschauer ein einfacher Teilnehmer wäre, sprich auf die passive Rolle des Bestauners und Beklatschers reduziert würde. Das passte ihm nicht. Außerdem, wen kennst du denn da?, fragte er sie angriffslustig am Küchentisch. Es sind lauter Buchhändler und Verleger und die sächsische Politprominenz, also niemanden mit dem ich ins Gespräch kommen könnte oder mit dem ich zuschaffen hätte. Lass mich! Mein alter Anzug reicht auch nicht.

Sabrina fand seine Haltung schade, sie hätte es genossen mit ihm unter all diesen Leuten zu sein. Zu zweit war man stärker, konnte sich austauschen, reden und besser ins Gespräch kommen. Zum anderen hatte sie die naive Vorstellung, trotz all des Geschäfts und der Statusrangeleien, dass solch eine Eröffnungsfeierlichkeit ein Fest war, das irgendwo eine gesamtgesellschaftliche, eine spirituelle, ja, heilige Dimension hatte. Was immer diese heilige, spirituelle Dimension auch sein mochte, gerade angesichts solcher Feste zeigte sich doch, wer man selber war im Land, im Leben, zu dieser Zeit. Dass Micha keinen Bock hatte lag also daran, sich von solch einem gesellschaftlichen Höhepunkt wie der Eröffnungsfeierlichkeit keinen Spiegel vorhalten lassen zu wollen, was er alles nicht erreicht hatte in seinem Leben.

Sie kam von ihrer einstündigen Fastengruppe, organisiert von der katholischen Kirche, was ihr angesichts der Missbrauchsskandale gar nicht schmeckte und schlenderte durch die Stadt, Richtung Gewandhaus. Wie schnell die Menschen gingen, so energievoll, kräftig, zielstrebig. Sie hingegen schritt langsam, bedächtig, doch aufrecht, den leeren Magen spürend, so als wollte er ihren Leib in der Mitte zusammen ziehen. Einmal mehr durch ihre leicht erhöhten Ausgehstöckelschuhen empfand sie Unsicherheit, wie als ginge sie auf einem Schiff, dessen leise Wellenbewegung sie beständig auszugleichen hatte. Lag es am Ziel, dem Festakt oder an ihrer Aufmache, denn sie hatte sich einen rotfarbenen, bunt bestickten Sarischal umgelegt und trug ein maronbraunes Deux Pièce unter ihrem langen, dunklen Wollmantel? Bekanntlich machen Kleider Leute und zu solchen Anlässen war nichts fein genug. Oder lag es an der vorhergehenden Fastenmeditation, dass sie sich wie in einem anderen Space fühlte? Sie gehörte in diesem Moment auf dem Weg von A nach B einfach einer anderen Klasse von Menschen an, nämlich zu denen, die teilnehmen konnten am Eröffnungsfestakt der Büchermesse. Nicht nur dass morgen die Zeitungen über dieses Ereignis berichten würden, nicht nur dass sie wieder einmal ganz nah am Puls der Zeit, am Ausgangspunkt allen Geschehens sein würde, jedenfalls soweit die Bedeutung der Leipziger Buchmesse reichen mochte, sondern ihr war klar, dass sie durch ihre Arbeit als Journalistin dieses Ereignis zumindest für ihr Leben zu einem besonderen machte. Al Gore hatte das einmal treffend damit beschrieben, dass es Gesellschaftsereignisse gäbe, auf die hin einige Vorbereitungen und intensive Arbeit verwendet werden, so dass sie quasi eine Vertiefung, respektive Erhöhung im normalen Verlauf der Alltäglichkeit ausbilden. Das Zauberwort war demnach Arbeit mittels dessen der Event heraus strahlte aus dem Üblichen. Und hatte nicht auch sie einige Zeit aufgewandt für ihr Outfit? Hinzu kam der ganze Ablauf, das Programm, die Reden, die Musik und vor allem die vielen, wichtigen Leute, denen sie …. Sabrina stockte in ihrem Gedanken …. etwas sagen würde, wenn ihr Artikel anschließend gelesen würde. Es war ein Zweitgedanke aufgetaucht: In einer sich identifizierenden Weise war ihr Lerke von Saalfeld in den Sinn gekommen. Lerke hielt die Laudatio auf den Preisträger Dalos. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts genaues über den Ablauf des Abends wusste, allenfalls dass im Mittelpunkt die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung stand, kam sie sich wie diese Lerke nur zeitversetzt vor, wenn sie sich an ihren Artikel über den Festakt machen würde und quasi eine Laudatio auf den Abend verfassen würde.

Sauber aufgereiht vor dem Portal des Gewandhauses schwarz glänzende Staatslimousinen, die VIPs waren also schon da und die Beeindruckung der Gäste mit Macht und Gloria würde noch andere Prunkakte aus Sachsen erwarten lassen können. Im Eingangsbereich das Publikum, mal mehr und mal weniger ausstaffiert, schwankte zwischen neugierigen Blicken und gelassener Welterfahrenheit. Sabrina erhielt ihre Eintrittskarte am Pressecounter - ohne die war kein Durchkommen - sowie die Skripte der Preisreden und das Programm. Es war noch Zeit. Die Garderobenfrauen kamen noch mit dem Ansturm zurecht. Nach Abgabe der Mäntel gab es nichts weiter zu sehen oder zu tun als auf seinen Platz im Gewandhaussaal zu gehen. Sabrina setzte sich beiseite, zog ihr Notizbuch aus ihre Handtasche und blätterte im Programm. Ihr fiel ihre dumme Frage nach der Prominenz wieder ein, wer denn aus Berlin käme? Hier stand es doch schwarz auf weiß, wer etwas zu sagen hatte, wer die Macher waren, wer den Ton angab. Die Redeskripte, vielleicht würde sie mitlesen.

Der Preisträger, György Dalos, ein Ungar, ein Jude, ein Kommunist, genauer Maoist, jedenfalls 1968, als ihn die ungarische KP aus der Partei ausschloss - wodurch nach 42 Jahren eine gesellschaftliche Halbwertzeit für das, was man meint zu sein und wozu die anderen einen machen, durchscheinen mag - den es schließlich von Budapest über Moskau nach Berlin verschlug, von wo aus er im freiwilligen Exil für Ungarn arbeitete, so die Biographie, wird eine Laudatio von Lerke von Saalfeld gehalten mit vorhergehenden Grußworten des Oberbürgermeisters, des Ministerpräsidenten und des Börsenvereinsvorstehers, eingerahmt von einem musikalischen Ohrenschmaus des Gewandhausorchesters unter der Leitung von Sir Norrington. Yep, das war nicht jedermanns Sache, soviel Gerede, wobei sich Sabrina schon fragte, wie sich wohl ein Mann wie der CDU Ministerpräsident zu diesem linken Preisträger verhielte, wahrscheinlich korrekt und die Chance nutzend, sich und sein Sachsen darzustellen.

Der Gewandhaussaal war voll, auch wenn einige Plätze leer blieben und somit für Micha durchaus ein freier Sessel übrig gewesen wäre, was sie ärgerte. Das Orchester ging zu seinen Stühlen - für die beiden Bachsuiten, BWV 1042 und 1069, reichte ein kleines Ensemble – und stimmte sich ein, der Dirigent, Sir Norrington, trat ein. Kein schwarzer Frack, auch kein Dirigentenpodest, sondern ein schwarzes, indisch anmutendes Maohemd tragend, stand er in der Mitte, fast umringt von seinem Ensemble. Diese Aufstellung, der Dirigent beinahe unter seinen Musikern, schien sich später auch in Dalos Gebaren zu spiegeln, so als wollte er sich nicht heraus- und emporheben lassen, sondern vielmehr in Kontakt bleiben mit seinen Lesern, seinen Leuten, dem Publikum. Zumindest verstand das Sabrina so, als Dalos mit seiner Preisrede geendet hatte und auch schon von der Bühne und dem Katheder zu seinem Platz in der ersten Reihe, Mitte, zurück eilte. Deutlich hörte Sabrina eine innere Stimme, die halb das Geschehen kommentierend, Runter! befahl. Ja, Sabrina hörte ab und an solch eine innere Stimme und war sich jedes Mal unschlüssig, ob es ihr galt oder schlicht eine Kommentierung des Geschehens um sie her war, wenn es nicht gar eine vorwegnehmende und darum das Geschehen befehlende innere Stimme war. Vor allem aber blieb sie unschlüssig, wer oder was diese innere Stimme verursachte und ob es etwas von ihr oder eine äußere Macht war, die sich ihr mitteilte.

Die Musik, Bach, Norrington deckten solche Gedanken mit alten, höfischen Klangbildern zu und riefen schemenhaft ein anderes Innenbild kurz und flüchtig wach: Höfische Gestalten in prächtiger Barockkleidung in den von Kerzenschein erleuchteten Räumen des Schlosses, wohl zu Dresden, eilig und geschäftig die Hebel der Macht bedienend. Tillich, die Rede des sächsischen Ministerpräsidenten, eines hageren Mannes, der nach oben gekommen noch nicht so recht zu wissen schien, welche Wirkung er zum einen erzielte, zum anderen welche Form und Gestalt ihm die Innenwelt der Menschen zugedachte. Er fiel Sabrina mit zwei Äußerungen auf: „Aber“, sprach er herab aus den Höhen des sächsischen Olymps, „mit dem Zweiten Weltkrieg war alles zu Ende. 360.000 Unternehmer verließen die Sowjetzone fluchtartig Richtung Westen – darunter viele Verleger.“ Stimmte das? Opa war doch noch in Gefangenschaft und Karl gefallen und der Hämmerring im KZ umgekommen. Es zeigte sich, dass Tillichs 360.000 Unternehmer weder im Krieg waren noch gewisse Gründe hatten, nicht schleunigst das Weite zu suchen, als die bösen Russen, die Untermenschen und Kommunisten kamen. Fluchtartig, schwups, da waren sie alle weg, diese tatkräftigen Unternehmer, die nun nun fehlten; der ganze Stand ausgetilgt durch einen Systemwechsel, der andere tatkräftige Menschen, die Politfunktionäre, an ihre Stelle hob.

Auf dieser Linie liegt es, den herausragenden Tatmenschen des westdeutschen Wirtschaftswunders die herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten in Ostdeutschland nach der glorreich friedlichen Revolution von 1989, quasi als geschichtsübergreifende Nachfolger, als Zweite Generation, an die Seite zu stellen. Und das sollen mehr werden, mehr noch als Tillichs 360.000 Flüchtlinge, denn, wie er einige Sätze später tönte, es gilt das gesprochene Wort: „Wir wollen Neues versuchen. Mutiger sein als andere in …. unserem deutschen Vaterland …. Den Neuanfang als Chance begreifen. Als Lust, nicht als Last.“ Nun ja, auf einem Parteitag hätten sie ihm an dieser Stelle wohl einen Zwischenapplaus gegeben, insbesondere da dieses „unser deutsches Vaterland“ aus tiefster Seele, wie vom Kirchenchor im Dom, als innerstes Glaubensbekenntnis herüber kam und für Momente im weiten Saal des Gewandhauses als ein unumstößliches Diktum im Raume schwebte, so dass es heilig, heilig, heilig, jeden Widerspruch, jeden Zweifel mit Angst im Keim erstickte. Niemand würde es wagen in einem solch erhabenen Moment zu pfeifen und zu schimpfen: Von deinen 360.000 Unternehmern waren zweidrittel Kriegsverbrecher, Nazis und KZ Profiteure!

Doch der Wohlklang der Musik Bachs, Norringtons und einer bezaubernden Solo-Violinistin deckten solche Gedanken mit alten, höfischen Klangbildern zu, wobei der Sir aus Old England ganz locker und légère einarmig dirigierte, was einem Tango gleichkommt bei der der Mann den rechten, die Dame haltenden Arm, herausfordernd baumeln lässt, wie Füße von einem Bootssteg an einem Sommertag. Und das zu Bachs Suiten. Ja, vielleicht herrschte seinerzeit eine ebensolche barocke Lässigkeit, deren Überheblichkeit provozierte, um dann auch noch die Herrschaften mit spielerischer Anmut der Musik zu belehren, über allem sei der Himmel und in dem sei Friede, Freude und das lachende Gurren des Glücks und ihre Aufgabe sei es, dieses auf die Erde zu bringen.

Wenn Honnefelder, der Vorsteher des Börsenvereins, vor Tillich mit seiner Rede den Saal mit dem Schreckgespenst füllte, das iPad käme im April auf den US Markt und würde von dort in einer lawinenartigen Globalbewegung über die deutschen Buchhändler hinweg fluten und so einige in den Bankrott und auf die Straße treiben, handele es sich doch um ein Gerät, mit dem sich selbst in der Badewanne ein downgeloadetes eBook lesen ließe, dann waren spätestens nach diesen Bachschen Klängen aus dem E-Dur Konzert für Violine, BWV 1042, die Gemüter beruhigt.

Auch wenn die Technologie des Papierbuches nicht in alle Ewigkeiten benutzt werden wird - man denke an die Abholzungen der Regenwälder - so handelte es sich doch um eine unter anderen Kulturtechnologien, die wie Schallplatten durch CDs oder wie die Pferde in den Städten durch Automobile ersetzt werden kann, so würde es Sache der Jugend sein auf solch ein Ding umzusteigen. Es blieben also noch Jahrzehnte, die sinnvoll genutzt werden konnten das Kapital aus dem Geschäft zu ziehen und es in neue Technologien und Geschäfte zu reinvestieren. Es würden sich neue Geschäftsmöglichkeiten erschließen, ging es doch schon heute darum, in den Entwicklungen von morgen einen Fuß zu haben, überlegte sich Sabrina als Honnefelder sprach. Plötzlich fiel ihr der Klang seiner Stimme auf. Sie kannte den. Wer war das? Allmählich formte sich ein Erinnerungsbild: Wolfgang Thierse, der Reichstagspräsident der Rot-Grünen, eine Leseratte, ein SPD Elefant aus dem Osten. Was machte der hier im Gewandhaus bei diesem Festakt? Das Phänomen war Sabrina bekannt: Manchmal schob sich über die Rede einer konkreten Person das Erinnerungsbild einer anderen Person, gleichsam als würde die Wahrnehmung des konkreten Menschen, der in Wirklichkeit auf der Bühne stand, überlagert werden, so dass er zum Repräsentanten des anderen wurde. Sie hatte das einmal bei einer Günter Grass Lesung erlebt, so dass aus Günter quasi Willy Brandt zu sprechen schien. Das witzige war nun, dass sie meinte zu hören, wie Honnefelder winkend zu rufen schien: Ich bin auch noch da, so als ob er nicht daran dachte gänzlich im Wolkenmeer der Gedanken über Wolfgang Thierse unterzugehen. Zu gerne hätte Sabrina, wäre sie nicht wie alle im Gewandhaussaal in ein hypnotisch anmutendes Zuhören versunken, ihren Nachbarn angestoßen, ob auch er aus Honnefelder den Thierse sprechen hörte. Nein, wieso sollte er, kam er doch aus dem österreichischen Linz und kannte diese vormalige Politgröße überhaupt nicht. War das aber ein Einwand dagegen, dass vielen im Saal dieser Thierse als maßgebliche Politgröße Ostdeutschlands in den Sinn gekommen war? Dass er mit Hegel sozusagen kollektiv zu Bewusstsein kam? Oder, vice versa, hatte sich ihr Bewusstsein der Größe und Bedeutung des Geschehens entsprechend geweitet, so dass es nahe lag anzunehmen, ihr individuelles Fühlen und Denken sei das aller anderen im Saal, sahen und hörten sie doch dasselbe wie sie in genau diesem Augenblick.

Als sie Micha später diese Sache mit Thierse erzählte, prustete der heraus: Was, der Thierse? Der hat doch sein Berliner Direktmandat verloren, gegen einen von der Linken, in der letzten Bundestagswahl 09. Sabrina war als platzte eine große Seifenblase. Genau das, dachte sie, nannte man im Hinduismus „Maya“, die große Illusion, die es durch Meditation zu durchschauen galt. Da hatte sich wie ein klangliches Stimmtrugbild übergroß eine andere Person über die wirkliche geschoben und nun stellte sich heraus, … ja, was? … zumindest dass Thierse ziemlich angeschlagen Federn hatte lassen müssen. Tor! Tor! Tor! Das war wahrlich ein Heimspiel für den Tiefensee? Innerparteilich war der nun bei der SPD der große Elefant im Osten. Wie hatte sie sich nur so täuschen lassen können? Mensch, lass gut sein, Sabrina, ich habe auch von nichts mehr eine Ahnung, klagte Micha. Seit ich wieder zurück bin in Deutschland, kommt es mir vor, als seien all die Leute ausgetauscht, ersetzt durch andere. Ach, schlimmer noch: Das, was die Leute hier im Osten nach der 89er Wende erlebten, stürzt jetzt auf mich, einen alten SPDler ein. Verstehst du? Wenn die SPD immer mehr verschwindet, so, wie einer dieser riesigen, arktischen Eisberge auf dem Weg in den Süden, dann bricht so etwas wie mein Weltverständnis zusammen. All die Orientierungspunkte, Leute, Institutionen, Organisationen, liquidiert, platt gemacht, bedeutungslos, machtlos - Panta Rhei – sie haben keine Gültigkeit mehr und das Neue? Es hat ohne mich angefangen und gemäß der politischen Machtverhältnisse … Er wusste nicht weiter, weil er den Gedanken nicht zu Ende aussprechen wollte. Ja, du willst dich nicht genauso platt machen lassen, meinte Sabrina. Verstehe ich. Könnte es seien, Micha, dass es dein Job ist, weniger die Macht und Größe da draußen in deiner ehemaligen und irgendwie noch immer Partei zu sehen, als viel mehr sie in dir, bei dir zu finden? Nicht, weil du dazugehörst, bist du wer, sondern weil du …. - Ja, was? Weil ich selber was auf die Beine stelle? Ein kurzes, verächtliches Lachen kam in ihm hoch. Was soll das denn sein? Und für wen? Für den Tillich, vielleicht? Komm, wir gehen zur Premiere von die 4. Revolution, da siehst du noch so eine SPD Größe. Micha stand verbitterte Enttäuschung im Gesicht geschrieben. Er wusste nicht weiter mit sich, seiner Arbeitslosigkeit und seinem Unwillen, sich den doch so einfachen Bedingungen von Angebot und Nachfrage, von Geld und Wunscherfüllung in den Zeiten der Prä-Bubble-Platz Katastrophen anzupassen.

Sabrina schrieb später in ihrem Artikel weiter, Honnefelder hätte noch einen warmen Applaus und zwischendurch sogar Begeisterungsrufe erhalten. Wie er erklärte, hatte er vor 20 Jahren als Verleger den Preisträger György Dalos ins Boot geholt, so dass ihn der heutige Preis quasi für seinen damaligen richtigen Riecher belohne. Sie ließ sich auch noch über das Gala Buffet im Anschluss an den Festakt aus, beschrieb mit duftenden, farbigen Worten all die köstlichen Speisen und Desserts und die Parfums der Frauen in ihrem neuesten Mode-chic de Paris samt glitzerndem Schmuck, um schließlich noch einmal auf György Dalos zu kommen und zwar mit der Frage, wo er wohl glücklicher und nützlicher wäre, in Berlin oder in Budapest und antwortete, das Oder sei falsch an ihrer Frage, es hätte durch ein Und ersetzt und dann verdoppelt zu werden.




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