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Die Frühjahrsmesse
Mitte
März 2010, Leipziger Buchmesse, von Dirk Glomptner
Ziemlich geschwächt von ihrer fünf
tägigen Fastenkur und deshalb lediglich mit einer Tasse Tee
bestückt, stand Sabrina an einem Stehtisch und diskutierte mit erst
zwei, dann drei Herren, Presseleuten, ein älterer mit seinem
jüngeren Kollegen vom MDR und schließlich mit Unternehmenssprecher
Tack von der Leipziger Buchmesse. Im Grunde war ihre Diskussion ein
Rundumschlag, ein Blitzlicht des versammelten Kollektivbewusstseins
zur gegenwärtigen Gesellschaftslage im Anschluss an die
Eröffnungspressekonferenz. Der ältere MDR Kollege referierte seinem
jüngeren Partner die Bedeutung eines Schlagzeilen verursachenden
Buches, dass als Plagiat, als Abschrift von Tagebuchaufzeichnungen
eines Lebemannes dieser Tage Furore machte. Gerade als älterer
Mensch würde er mitbekommen, was bei den jüngeren abging und
deshalb sei die ganze Schmäherei und Auseinandersetzung um die junge
Autorin Quatsch. Sabrina hatte von dem Skandal entfernt gehört. Es
war ihr peinlich, weder den Namen der Autorin zu erinnern, noch genau
zu wissen, worum es bei der Sache ging. Als Medienmensch hatte sie
auf dem neuesten Stand der Informationsgesellschaft zu sein, wollte
sie mitreden. Anstatt dessen versuchte sie ein anderes Thema, das ihr
unter den Fingernägeln brannte, einzubringen. Nebenbei nur fiel ihr
auf, dass sich das Zwiegespräch der beiden Rundfunkleute durch ihr
Hinzutreten und Fragen in eine offene Austauschrunde nach der
EröffnungsPK zur Leipziger
Buchmesse umgestaltete. Es gab offensichtlich ein
allseitiges Bedürfnis sich nach dieser eher verhaltenen PK
auszutauschen, sprich danach herauszufinden, wo es lang ging bei
dieser Messe des in Buchform gebrachten Geistes. In der PK drehte es
sich vor allem um geschäftliche Fakten rund um den Buchhandel. Das
waren Themen für Wirtschaftsleute. Sabrina hatte kaum Aktien in
ökonomischen Dingen, insofern gingen Meldungen, wie die von
Honnefelder, dem Vorsteher des Börsenvereins,
nur
die
größeren
Verlage
hätten
vom drei prozentigen Marktzuwachs
des Buchhandels im vergangenen Jahr profitiert, glatt durch ihre
Maschen. Was vielmehr ihre Phantasie frei setzte war seine
professorale Behauptung, sowohl der digitale als auch der Hardcover
Markt wüchsen, wobei er nicht sagte: quasi in Abhängigkeit von
einander. Es sei ein Irrtum, elektronische Bücher würden den
Buchhändlern schaden, ganz im Gegenteil. Eine Ersetzung des
Papierbuches sei nicht in Sicht. Sabrina malte den Rundfunkleuten am
Stehtisch aus, wenn die Automatisierung weiter voran schritte, so
könnte es doch ein leichtes sein, dass ein Kopyladen an der Ecke mit
dem richtigen Programm in den Kopierern in der Lage wäre,
preisgünstigst ein digitales PDF Buch als Hardcover raus zu lassen.
Konsens bestand darin, dass es unbequem sei, ein Buch per Laptop zu
lesen, selbst wenn es mittlerweile Kleinst PCs in Buchgröße gäbe.
Ob sich das ab April durch das von Apple auf den Markt kommende iPad
ändern würde, konnte sich offensichtlich niemand außer Honnefer
richtig vorstellen.
Themenwechsel als
Unternehmenssprecher
Tack mit einem leckeren teller erlesener Köstlichkeiten vom Buffet
an den Stehtisch tritt. Sabrina läuft das Wasser im Mund zusammen,
wobei ihre Augen die gefüllte Gabel Tacks auf dem Weg zum sich
öffnenden Mund verfolgen. Welche Promis eröffnen denn die Messe am
Abend im Gewandhaus? Und nachschiebend : Ja, und wer kommt denn aus
Berlin?, fragte sie Tack neidisch auf sein Essen. .... Niemand, man
hätte zwar angefragt, aber man sei auf kein Interesse gestoßen.
Yep, meinte der ältere MDR Kollege, so sieht es seit dem
Regierungswechsel 2005 aus: Der Staat zieht sich zurück und nun noch
mehr, wo die FDP dran ist. .... Stimmt, meinte sein jüngerer
Kollege, damals hatten die Politiker den Menschen noch etwas zu
sagen, es gab öffentliche Diskussionen, einen Austausch zwischen den
Machern da oben und den Menschen. Heute findet alles hinter
verschlossenen Türen und in geschlossenen Zirkeln statt. Tack
hingegen beharrte darauf, dass so einige Promis kämen, allerdings
seien es nicht mehr die Bundespolitiker, sondern die Autoren. Bei
Rot-Grün wären diejenigen, die wirklich etwas zu sagen hatten, die
Fachleute und Künstler, doch nur weg gedrängt worden von der
Medienmacht des Staates, sprich beiseite geschoben worden von den
politischen Großmäulern, die an nichts anderes dächten als an ihre
Wiederwahl. Es ist schon gut so, dass die sich nicht mehr so
vordrängen. Wir sind doch auch jemand und der Autor und Sie, wobei
er Sabrina fest in die Augen schaute, um sich dann flambiertes
Hünchenschenkel mit Reis und Gemüse auf die Gabel und in den Mund
zu schieben. Ja, die Leipziger Messe ließ sich ihr gutes Image etwas
kosten. Sabrina bedauerte sehr, nicht selber von dem herrlichen
Buffet kosten zu können, es war ihr letzter Fastentag und sie wollte
sich selber treu bleiben. Morgen käme das Fastenbrechen mit einem
gedünsteten Apfel und am Abend Gemüsesuppe mit festeren
Bestandteilen und dann die Premiere von Die
4. Revolution, ein Umwelt Doku zum Thema Energie, das
in seiner Aufmachung Al Gore´s Inconvenient
Truth nachempfunden schien. Sie fragte sich, ob
diese Relativierung, dieses in eine Reihe Stellen des Films, nicht
zugleich auch eine Herabwürdigung des Films war. Als Nachahmung
fehlte ihm der Impetus des Neuen und Revolutionären. Sie wollte ihn
aber nicht herabwürdigen, sie war gegen AKWs und übermäßigen
Straßenverkehr. OK, und heute Abend die Eröffnungsveranstaltung der
Messe im Gewandhaus,
wahrscheinlich
wieder
mit
einem
Buffet
von dem sie nicht essen
durfte. Der sächsische Ministerpräsident Tillich käme und
Tiefensee, ein Ex-Minister aus Leipzig. Ein Heimspiel sei das für
den, meinte Tack, wobei sich Sabrina fragte, worum er wohl spielen
mochte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tiefensee noch eine
Karriere, zum Beispiel als Sächsischer Ministerpräsident, vor sich
hatte.
Festakt zur Eröffnung der Leipziger
Buchmesse
Leipziger
Gewandhaus, 19 Uhr, 17. März 2010, DG
Sabrina hatte nur eine
Pressekarte
bekommen. Ihr Freund Michael würde nicht mitkommen können. Mist!
Sie hätte sich gefreut. Auch wenn er immer sagte, er habe keine
Zeit, keinen Bock auf solche Veranstaltungen zu gehen. Nicht nur dass
er die High Society mit ihren Events ablehnte, schlicht weil er dort
ein Nobody war, sondern weil er als ordinärer Zuschauer ein
einfacher Teilnehmer wäre, sprich auf die passive Rolle des
Bestauners und Beklatschers reduziert würde. Das passte ihm nicht.
Außerdem, wen kennst du denn da?, fragte er sie angriffslustig am
Küchentisch. Es sind lauter Buchhändler und Verleger und die
sächsische Politprominenz, also niemanden mit dem ich ins Gespräch
kommen könnte oder mit dem ich zuschaffen hätte. Lass mich! Mein
alter Anzug reicht auch nicht.
Sabrina fand seine Haltung
schade,
sie
hätte es genossen mit ihm unter all diesen Leuten zu sein. Zu zweit
war man stärker, konnte sich austauschen, reden und besser ins
Gespräch kommen. Zum anderen hatte sie die naive Vorstellung, trotz
all des Geschäfts und der Statusrangeleien, dass solch eine
Eröffnungsfeierlichkeit ein Fest war, das irgendwo eine
gesamtgesellschaftliche, eine spirituelle, ja, heilige Dimension
hatte. Was immer diese heilige, spirituelle Dimension auch sein
mochte, gerade angesichts solcher Feste zeigte sich doch, wer man
selber war im Land, im Leben, zu dieser Zeit. Dass Micha keinen Bock
hatte lag also daran, sich von solch einem gesellschaftlichen
Höhepunkt wie der Eröffnungsfeierlichkeit keinen Spiegel vorhalten
lassen zu wollen, was er alles nicht erreicht hatte in seinem Leben.
Sie kam von ihrer
einstündigen
Fastengruppe, organisiert von der katholischen Kirche, was ihr
angesichts der Missbrauchsskandale gar nicht schmeckte und
schlenderte durch die Stadt, Richtung Gewandhaus. Wie schnell die
Menschen gingen, so energievoll, kräftig, zielstrebig. Sie hingegen
schritt langsam, bedächtig, doch aufrecht, den leeren Magen spürend,
so als wollte er ihren Leib in der Mitte zusammen ziehen. Einmal mehr
durch ihre leicht erhöhten Ausgehstöckelschuhen empfand sie
Unsicherheit, wie als ginge sie auf einem Schiff, dessen leise
Wellenbewegung sie beständig auszugleichen hatte. Lag es am Ziel,
dem Festakt oder an ihrer Aufmache, denn sie hatte sich einen
rotfarbenen, bunt bestickten Sarischal umgelegt und trug ein
maronbraunes Deux Pièce unter ihrem
langen, dunklen Wollmantel? Bekanntlich machen Kleider Leute und zu
solchen Anlässen war nichts fein genug. Oder lag es an der
vorhergehenden Fastenmeditation, dass sie sich wie in einem anderen
Space fühlte? Sie gehörte in diesem Moment auf dem Weg von A nach B
einfach einer anderen Klasse von Menschen an, nämlich zu denen, die
teilnehmen konnten am Eröffnungsfestakt der Büchermesse. Nicht nur
dass morgen die Zeitungen über dieses Ereignis berichten würden,
nicht nur dass sie wieder einmal ganz nah am Puls der Zeit, am
Ausgangspunkt allen Geschehens sein würde, jedenfalls soweit die
Bedeutung der Leipziger Buchmesse reichen mochte, sondern ihr war
klar, dass sie durch ihre Arbeit als Journalistin dieses Ereignis
zumindest für ihr Leben zu einem besonderen machte. Al Gore hatte
das einmal treffend damit beschrieben, dass es
Gesellschaftsereignisse gäbe, auf die hin einige Vorbereitungen und
intensive Arbeit verwendet werden, so dass sie quasi eine Vertiefung,
respektive Erhöhung im normalen Verlauf der Alltäglichkeit
ausbilden. Das Zauberwort war demnach Arbeit mittels dessen der Event
heraus strahlte aus dem Üblichen. Und hatte nicht auch sie einige
Zeit aufgewandt für ihr Outfit? Hinzu kam der ganze Ablauf, das
Programm, die Reden, die Musik und vor allem die vielen, wichtigen
Leute, denen sie …. Sabrina stockte in ihrem Gedanken …. etwas
sagen würde, wenn ihr Artikel anschließend gelesen würde. Es war
ein Zweitgedanke aufgetaucht: In einer sich identifizierenden Weise
war ihr Lerke von Saalfeld in den Sinn gekommen. Lerke hielt die
Laudatio auf den Preisträger Dalos. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt
noch nichts genaues über den Ablauf des Abends wusste, allenfalls
dass im Mittelpunkt die Verleihung des Leipziger
Buchpreises
zur
Europäischen
Verständigung stand, kam
sie sich wie diese Lerke nur zeitversetzt vor, wenn sie sich an ihren
Artikel über den Festakt machen würde und quasi eine Laudatio auf
den Abend verfassen würde.
Sauber aufgereiht vor dem
Portal
des
Gewandhauses schwarz glänzende Staatslimousinen, die VIPs waren also
schon da und die Beeindruckung der Gäste mit Macht und Gloria würde
noch andere Prunkakte aus Sachsen erwarten lassen können. Im
Eingangsbereich das Publikum, mal mehr und mal weniger ausstaffiert,
schwankte zwischen neugierigen Blicken und gelassener
Welterfahrenheit. Sabrina erhielt ihre Eintrittskarte am
Pressecounter - ohne die war kein Durchkommen - sowie die Skripte der
Preisreden und das Programm. Es war noch Zeit. Die Garderobenfrauen
kamen noch mit dem Ansturm zurecht. Nach Abgabe der Mäntel gab es
nichts weiter zu sehen oder zu tun als auf seinen Platz im
Gewandhaussaal zu gehen. Sabrina setzte sich beiseite, zog ihr
Notizbuch aus ihre Handtasche und blätterte im Programm. Ihr fiel
ihre dumme Frage nach der Prominenz wieder ein, wer denn aus Berlin
käme? Hier stand es doch schwarz auf weiß, wer etwas zu sagen
hatte, wer die Macher waren, wer den Ton angab. Die Redeskripte,
vielleicht würde sie mitlesen.
Der Preisträger, György
Dalos, ein
Ungar, ein Jude, ein Kommunist, genauer Maoist, jedenfalls 1968, als
ihn die ungarische KP aus der Partei ausschloss - wodurch nach 42
Jahren eine gesellschaftliche Halbwertzeit für das, was man meint zu
sein und wozu die anderen einen machen, durchscheinen mag - den es
schließlich von Budapest über Moskau nach Berlin verschlug, von wo
aus er im freiwilligen Exil für Ungarn arbeitete, so die Biographie,
wird eine Laudatio
von Lerke von Saalfeld gehalten mit vorhergehenden Grußworten des
Oberbürgermeisters, des Ministerpräsidenten und des
Börsenvereinsvorstehers, eingerahmt von einem musikalischen
Ohrenschmaus des Gewandhausorchesters unter der Leitung von Sir
Norrington. Yep, das war nicht jedermanns Sache, soviel Gerede, wobei
sich Sabrina schon fragte, wie sich wohl ein Mann wie der CDU
Ministerpräsident zu diesem linken Preisträger verhielte,
wahrscheinlich korrekt und die Chance nutzend, sich und sein Sachsen
darzustellen.
Der Gewandhaussaal war voll,
auch
wenn
einige Plätze leer blieben und somit für Micha durchaus ein
freier Sessel übrig gewesen wäre, was sie ärgerte. Das Orchester
ging zu seinen Stühlen - für die beiden Bachsuiten, BWV 1042 und
1069, reichte ein kleines Ensemble – und stimmte sich ein, der
Dirigent, Sir Norrington, trat ein. Kein schwarzer Frack, auch kein
Dirigentenpodest, sondern ein schwarzes, indisch anmutendes Maohemd
tragend, stand er in der Mitte, fast umringt von seinem Ensemble.
Diese Aufstellung, der Dirigent beinahe unter seinen Musikern, schien
sich später auch in Dalos Gebaren zu spiegeln, so als wollte er sich
nicht heraus- und emporheben lassen, sondern vielmehr in Kontakt
bleiben mit seinen Lesern, seinen Leuten, dem Publikum. Zumindest
verstand das Sabrina so, als Dalos mit seiner Preisrede geendet hatte
und auch schon von der Bühne und dem Katheder zu seinem Platz in der
ersten Reihe, Mitte, zurück eilte. Deutlich hörte Sabrina eine
innere Stimme, die halb das Geschehen kommentierend, Runter! befahl.
Ja, Sabrina hörte ab und an solch eine innere Stimme und war sich
jedes Mal unschlüssig, ob es ihr galt oder schlicht eine
Kommentierung des Geschehens um sie her war, wenn es nicht gar eine
vorwegnehmende und darum das Geschehen befehlende innere Stimme war.
Vor allem aber blieb sie unschlüssig, wer oder was diese innere
Stimme verursachte und ob es etwas von ihr oder eine äußere Macht
war, die sich ihr mitteilte.
Die Musik, Bach, Norrington
deckten
solche Gedanken mit alten, höfischen Klangbildern zu und riefen
schemenhaft ein anderes Innenbild kurz und flüchtig wach: Höfische
Gestalten in prächtiger Barockkleidung in den von Kerzenschein
erleuchteten Räumen des Schlosses, wohl zu Dresden, eilig und
geschäftig die Hebel der Macht bedienend. Tillich, die Rede des
sächsischen Ministerpräsidenten, eines hageren Mannes, der nach
oben gekommen noch nicht so recht zu wissen schien, welche Wirkung er
zum einen erzielte, zum anderen welche Form und Gestalt ihm die
Innenwelt der Menschen zugedachte. Er fiel Sabrina mit zwei
Äußerungen auf: „Aber“, sprach er herab aus den Höhen des
sächsischen Olymps, „mit dem Zweiten Weltkrieg war alles zu
Ende. 360.000 Unternehmer verließen die Sowjetzone
fluchtartig Richtung Westen – darunter viele Verleger.“ Stimmte
das? Opa war doch noch in Gefangenschaft und Karl gefallen und der
Hämmerring im KZ umgekommen. Es zeigte sich, dass Tillichs 360.000
Unternehmer weder im Krieg waren noch gewisse Gründe hatten, nicht
schleunigst das Weite zu suchen, als die bösen Russen, die
Untermenschen und Kommunisten kamen. Fluchtartig, schwups, da waren
sie alle weg, diese tatkräftigen Unternehmer, die nun nun fehlten;
der ganze Stand ausgetilgt durch einen Systemwechsel, der andere
tatkräftige Menschen, die Politfunktionäre, an ihre Stelle hob.
Auf dieser Linie liegt es,
den
herausragenden Tatmenschen des westdeutschen Wirtschaftswunders die
herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten in Ostdeutschland nach
der glorreich friedlichen Revolution von 1989, quasi als
geschichtsübergreifende Nachfolger, als Zweite Generation, an die
Seite zu stellen. Und das sollen mehr werden, mehr noch als Tillichs
360.000 Flüchtlinge, denn, wie er einige Sätze später tönte, es
gilt das gesprochene Wort: „Wir wollen Neues versuchen. Mutiger
sein als andere in …. unserem deutschen Vaterland …. Den
Neuanfang als Chance begreifen. Als Lust, nicht als Last.“ Nun ja,
auf einem Parteitag hätten sie ihm an dieser Stelle wohl einen
Zwischenapplaus gegeben, insbesondere da dieses „unser deutsches
Vaterland“ aus tiefster Seele, wie vom Kirchenchor im Dom, als
innerstes Glaubensbekenntnis herüber kam und für Momente im weiten
Saal des Gewandhauses als ein unumstößliches Diktum im Raume
schwebte, so dass es heilig, heilig, heilig, jeden Widerspruch, jeden
Zweifel mit Angst im Keim erstickte. Niemand würde es wagen in einem
solch erhabenen Moment zu pfeifen und zu schimpfen: Von deinen
360.000 Unternehmern waren zweidrittel Kriegsverbrecher, Nazis und KZ
Profiteure!
Doch der Wohlklang der Musik
Bachs,
Norringtons und einer bezaubernden Solo-Violinistin deckten solche
Gedanken mit alten, höfischen Klangbildern zu, wobei der Sir aus Old
England ganz locker und légère einarmig dirigierte, was einem Tango
gleichkommt bei der der Mann den rechten, die Dame haltenden Arm,
herausfordernd baumeln lässt, wie Füße von einem Bootssteg an
einem Sommertag. Und das zu Bachs Suiten. Ja, vielleicht herrschte
seinerzeit eine ebensolche barocke Lässigkeit, deren Überheblichkeit
provozierte, um dann auch noch die Herrschaften mit spielerischer
Anmut der Musik zu belehren, über allem sei der Himmel und in dem
sei Friede, Freude und das lachende Gurren des Glücks und ihre
Aufgabe sei es, dieses auf die Erde zu bringen.
Wenn Honnefelder, der
Vorsteher
des
Börsenvereins, vor Tillich mit seiner Rede den Saal mit dem
Schreckgespenst füllte, das iPad käme im April auf den US Markt und
würde von dort in einer lawinenartigen Globalbewegung über die
deutschen Buchhändler hinweg fluten und so einige in den Bankrott
und auf die Straße treiben, handele es sich doch um ein Gerät, mit
dem sich selbst in der Badewanne ein downgeloadetes eBook lesen
ließe, dann waren spätestens nach diesen Bachschen Klängen aus dem
E-Dur Konzert für Violine, BWV 1042, die Gemüter beruhigt.
Auch wenn die Technologie des
Papierbuches nicht in alle Ewigkeiten benutzt werden wird - man denke
an die Abholzungen der Regenwälder - so handelte
es sich doch um eine unter anderen Kulturtechnologien, die wie
Schallplatten durch CDs oder wie die Pferde in den Städten durch
Automobile ersetzt werden kann, so würde es Sache der Jugend sein auf
solch ein Ding umzusteigen. Es blieben also noch Jahrzehnte, die
sinnvoll genutzt werden konnten das Kapital aus dem Geschäft zu
ziehen und es in neue Technologien und Geschäfte zu reinvestieren.
Es würden sich neue Geschäftsmöglichkeiten erschließen, ging es
doch schon heute darum, in den Entwicklungen von morgen einen Fuß zu
haben, überlegte sich Sabrina als Honnefelder sprach. Plötzlich
fiel ihr der Klang seiner Stimme auf. Sie kannte den. Wer war das?
Allmählich formte sich ein Erinnerungsbild: Wolfgang Thierse, der
Reichstagspräsident der Rot-Grünen, eine Leseratte, ein SPD Elefant
aus dem Osten. Was machte der hier im Gewandhaus bei diesem Festakt?
Das Phänomen war Sabrina bekannt: Manchmal schob sich über die Rede
einer konkreten Person das Erinnerungsbild einer anderen Person,
gleichsam als würde die Wahrnehmung des konkreten Menschen, der in
Wirklichkeit auf der Bühne stand, überlagert werden, so dass er zum
Repräsentanten des anderen wurde. Sie hatte das einmal bei einer
Günter Grass Lesung erlebt, so dass aus Günter quasi Willy Brandt
zu sprechen schien. Das witzige war nun, dass sie meinte zu hören,
wie Honnefelder winkend zu rufen schien: Ich bin auch noch da, so als
ob er nicht daran dachte gänzlich im Wolkenmeer der Gedanken über
Wolfgang Thierse unterzugehen. Zu gerne hätte Sabrina, wäre sie
nicht wie alle im Gewandhaussaal in ein hypnotisch anmutendes Zuhören
versunken, ihren Nachbarn angestoßen, ob auch er aus Honnefelder den
Thierse sprechen hörte. Nein, wieso sollte er, kam er doch aus dem
österreichischen Linz und kannte diese vormalige Politgröße
überhaupt nicht. War das aber ein Einwand dagegen, dass vielen im
Saal dieser Thierse als maßgebliche Politgröße Ostdeutschlands in
den Sinn gekommen war? Dass er mit Hegel sozusagen kollektiv zu
Bewusstsein kam? Oder, vice versa, hatte sich ihr Bewusstsein der
Größe und Bedeutung des Geschehens entsprechend geweitet, so dass
es nahe lag anzunehmen, ihr individuelles Fühlen und Denken sei das
aller anderen im Saal, sahen und hörten sie doch dasselbe wie sie in
genau diesem Augenblick.
Als sie Micha später diese
Sache
mit
Thierse erzählte, prustete der heraus: Was, der Thierse? Der hat
doch sein Berliner Direktmandat verloren, gegen einen von der Linken,
in der letzten Bundestagswahl 09. Sabrina war als platzte eine große
Seifenblase. Genau das, dachte sie, nannte man im Hinduismus „Maya“,
die große Illusion, die es durch Meditation zu durchschauen galt. Da
hatte sich wie ein klangliches Stimmtrugbild übergroß eine andere
Person über die wirkliche geschoben und nun stellte sich heraus, …
ja, was? … zumindest dass Thierse ziemlich angeschlagen Federn hatte
lassen müssen. Tor! Tor! Tor! Das war wahrlich ein Heimspiel für den
Tiefensee? Innerparteilich war der nun bei der SPD der große Elefant
im Osten. Wie hatte sie sich nur so täuschen lassen können? Mensch,
lass gut sein, Sabrina, ich habe auch von nichts
mehr eine Ahnung, klagte Micha. Seit ich wieder zurück bin in
Deutschland, kommt es mir vor, als seien all die Leute ausgetauscht,
ersetzt durch andere. Ach, schlimmer noch: Das, was die Leute hier im
Osten nach der 89er Wende erlebten, stürzt jetzt auf mich, einen
alten SPDler ein. Verstehst du? Wenn die SPD immer mehr verschwindet,
so, wie einer dieser riesigen, arktischen Eisberge auf dem Weg in den
Süden, dann bricht so etwas wie mein Weltverständnis zusammen. All
die Orientierungspunkte, Leute, Institutionen, Organisationen,
liquidiert, platt gemacht, bedeutungslos, machtlos - Panta Rhei –
sie haben keine Gültigkeit mehr und das Neue? Es hat ohne mich
angefangen und gemäß der politischen Machtverhältnisse … Er
wusste nicht weiter, weil er den Gedanken nicht zu Ende aussprechen
wollte. Ja, du willst dich nicht genauso platt machen lassen, meinte
Sabrina. Verstehe ich. Könnte es seien, Micha, dass es dein Job ist,
weniger die Macht und Größe da draußen in deiner ehemaligen und
irgendwie noch immer Partei zu sehen, als viel mehr sie in dir, bei
dir zu finden? Nicht, weil du dazugehörst, bist du wer, sondern weil
du …. - Ja, was? Weil ich selber was auf die Beine stelle? Ein
kurzes, verächtliches Lachen kam in ihm hoch. Was soll das denn
sein? Und für wen? Für den Tillich, vielleicht? Komm, wir gehen zur
Premiere von die 4. Revolution, da siehst du noch so eine SPD Größe.
Micha stand verbitterte Enttäuschung im Gesicht
geschrieben. Er
wusste nicht weiter mit sich, seiner Arbeitslosigkeit und seinem
Unwillen, sich den doch so einfachen Bedingungen von Angebot und
Nachfrage, von Geld und Wunscherfüllung in den Zeiten der
Prä-Bubble-Platz Katastrophen anzupassen.
Sabrina schrieb später in
ihrem
Artikel weiter, Honnefelder hätte noch einen warmen Applaus und
zwischendurch sogar Begeisterungsrufe erhalten. Wie er erklärte,
hatte er vor 20 Jahren als Verleger den Preisträger György Dalos
ins Boot geholt, so dass ihn der heutige Preis quasi für seinen
damaligen richtigen Riecher belohne. Sie ließ sich auch noch über
das Gala Buffet im Anschluss an den Festakt aus, beschrieb mit
duftenden, farbigen Worten all die köstlichen Speisen und Desserts
und die Parfums der Frauen in ihrem neuesten Mode-chic de Paris samt
glitzerndem Schmuck, um
schließlich noch einmal auf György Dalos zu kommen und zwar mit der
Frage, wo er wohl glücklicher und nützlicher wäre, in Berlin oder
in Budapest und antwortete, das Oder sei falsch an
ihrer Frage, es hätte durch ein Und ersetzt und dann verdoppelt zu
werden.
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