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Unfall

eine Kurzgeschichte von Dirk Glomptner

Unfall


Unfall, man kann es einen Unfall nennen, nicht wie im üblichen
Sinne, wenn es auf der Autobahn knallt, weil ein Raser auf der linken Spur von einem zum Überholen ansetzenden Fahrer auf der rechten Spur übersehen wurde, wenn also beschleunigte Körper einen plötzlichen Geschwindigkeitsverlust erfahren, weil sie aufeinander und dann auf Leitplanken und Baumstämme treffen und sich dabei zerstören. Die in Frage stehende Art des Unfalls hat weniger die körperliche, als viel mehr die seelische Dimension zum Gegenstand. Nichts desto trotz handelt es sich um Menschen in Bewegung.

Im konkreten Fall hatte sich Michael Welten auf den Weg von Berlin nach Leipzig gemacht und zwar per Mitfahrgelegenheit, eine Institution, die die Erbschaft des einfachen Autostops an Tankstellen und Autobahneinfahrten seit der Einführung des Internets angetreten hatte: Auf einer Web-Site geben willige Fahrer ihr Fahrtziel an und die zur Verfügung stehenden Mitfahrplätze. Die Fahrkosten werden durch die Anzahl der Mitreisenden geteilt. In Mitteleuropa scheint sich diese Institution, insbesondere bei den jüngeren, weitgehend durchgesetzt zu haben. Es ist leicht, MfGs für die größeren Städten zu finden.

Michael hatte also keine Probleme, aus einer langen Liste mit Uhrzeitangabe für die Abfahrt nach Leipzig, jemanden heraus zu suchen. Ein kurzes Telefongespräch, in dem die Details: Fahrpreis, Abfahrtsort, Erkennungszeichen, Autofarbe etc. geklärt wurden und in dem vor allem die zuverlässige Sicherheit des wirklich Kommens und wirklich Fahrens vermittelt wird. Diesmal fand sich Micha ein wenig vage, was daran lag, dass er gerne früher und nicht so weit durch die Stadt zum Abfahrtsort gefahren wäre.

Tatsächlich schlug er pünktlich auf. Es gab noch eine Mitfahrerin und die Frau des Fahrers, Margret. Ihr Ziel: Bad Kissingen in Bayern. Vielleicht hätte das Ziel Welten schon vorsichtiger sein lassen müssen, war doch Bad Kissingen für die deftigen Parteitagssprüche der CSU bekannt. Ihre Fahrtabsprache bestand darin, dass André, der Fahrer, ihn in Leipzig, üblicher Weise am Hauptbahnhof, absetzen würde. Welten schwieg dazu, wunderte sich jedoch, denn wenn die drei nach Bayern wollten, so wäre die Fahrt ins Stadtzentrum von Leipzig doch ein erwähnenswerter Abstecher von mindestens 40 Minuten. Bezüglich des Preises meinte Micha sich zu erinnern, dass auch André die für diese Strecke üblichen 10 Euro auf der Web-Site angegeben hatte.

Die Fahrt ging los und nach einigen freundlichen Worten zum Kennen Lernen klappte Welten seine Augen zu und schlief friedlich und ruhig, tief und fest. Zwei Stunden später tippte ihn André ein wenig ungehalten auf die Schulter: Wohin er denn nach Leipzig wolle? Sie waren auf Leipzig zugekommen und er hatte auf dem Hinweisschild gesehen, dass es ein Abstecher von 25 Kilometer war. Sie wollten nach Hause. Mist. Er hatte echt nicht daran gedacht, dass Leipzig soweit ab vom Schuss lag. Der Typ hätte echt was sagen können. Währenddessen passierten sie das Autobahnkreuz am Flughafen, die kürzeste Verbindung. Welten, noch halb im Schlaf, staunte, was nun wohl abgehen würde. Es käme gleich noch eine Abfahrt nach Leipzig, sagte er. Die Stimmung vorne im Wagen schien ihm gefüllt mit dunklen Gewitterwolken, doch Margret sagte nichts. Sprachlosigkeit, eine Stille, in der die Gedanken fast greifbar schienen und in Form eines inneren Monologes losgelöst von jeder Person herum schwirrten: Wir wollen weiter. Wir haben keine Zeit. Er hätte was sagen können! Ich habe einen Fehler gemacht und muss, nein, soll jetzt die Konsequenzen tragen. Ich will nicht. Scheiß Typ! Am liebsten würde ich ihn raus setzen. Das kannst du nicht machen, du hast es ihm zugesagt. Soll ich mich von ihm erpressen lassen. Er wusste doch, dass ich es nicht weiß und dass das unzumutbar ist für uns. Mal gucken, vielleicht kommt ja eine Bahnstation.

In der drückenden Stille drängender Gedanken, denn jeder weiter gefahrene Moment war eine Entscheidung, kam die Abfahrt. André bog ab. Eine Landstraße, die stadtein-, wie stadtauswärts mit dichtem Feierabendverkehr gefüllt war. Oh nein! In der Stille war auch dieser unausgesprochene Stoßseufzer zum Greifen hörbar. Nein, das ging nicht, jetzt auch noch ein Stau und rote Ampeln, das würde Stunden dauern diesen Typen allein nur bis zur nächsten Straßenbahnstation zu bringen. Was machen?, fragte sich André, fragte sich Margret. Ich hab es versprochen, dachte André. Aber das hatten wir doch schon abgehakt, erwiderte denkend Margret. Er hätte etwas sagen können, er kennt die Strecke. Dieser Mistkerl, dachte André. Der Wagen rollte wieder an, um sogleich wieder von roten Bremsleuchten ausgebremst zu werden. Stille. In André tobte die Wut über seine Dummheit. Sie wollten um acht Uhr in Bad Kissingen sein und Margret hatte ihn madig gemacht, er solle auf die Mitfahrer verzichten und nun das. Warum ging es denn eigentlich? Darum, dass er einen Zustupf für die Fahrtkosten brauchte, wollte, schlicht, es ging ums Geld. Hatten sie eigentlich übers Geld gesprochen? Nein. Wie viel bekam er denn von diesem Typen dahinten, der die ganze Zeit gepoft hatte und so tat, als wäre nichts? 25 Euro? Hm, das war wahrscheinlich zu viel.

Wie ein Pistolenschuss, der unerwartet in die Stille eines Morgens platzte, knallte André seine Forderung Michael vor den Kopf: Dann bekomme ich von dir 17 Euro. Das war die Entladung der Spannung, die sich im Schweigen zuvor aufgebaut hatte. Wie viel?, fragte Michael empört und entsetzt zurück. 17 Euro? Du hast sie ja wohl nicht mehr alle. Noch während er sprach, wusste Micha, dass er in die Falle gegangen war. Nicht dass André sich überlegt hätte, wie könne er diesen Typen provozieren und in ein schlechtes Licht rücken oder dass er dann wenigstens Geld für seine Mühen, sein Leiden, seinen Fehler … ja, es war sein Fehler, er hatte einfach nicht gewusst, dass Leipzig so weit ab vom Schuss lag. Mist! Aber sich von diesem Scheißkerl auch noch beschimpfen lassen, dass ging ja nun wirklich zu weit. Nun ging alles blitzschnell und gleichzeitig. Margret keifte: Das ist ja wohl die Höhe sich von dem da beschimpfen lassen zu müssen. Schmeiß ihn raus! Während dessen war André längst am Bremsen und Rechts ran Fahren. Ich kriege von dir 17 Euro. Das ist ja wohl das mindeste, du Bastard! Du Scheißkerl, du wusstest doch, das Leipzig so weit abliegt. Und dann dein schwerer Koffer. Mach, dass du aus meinem Wagen raus kommst. Er riss seine Wagentür auf. Auch Welten machte hinten seine Tür auf. In seinem Gesicht fand sich ein Ausdruck von fröhlichem Staunen: Und was kommt nun?, stand darin zu lesen. Was geht jetzt hier ab? André huschte um den Wagen herum, riss den Kofferraum auf und beförderte Weltens zwei Koffer heraus. Echt, du bist solch ein Scheißkerl, schimpfte er auf Welten ein. Doch an dem schien das abzugleiten. Er sagte einfach nichts, kämpfte nicht, lächelte irgendwie auch noch fröhlich. Idiot! Pack gefälligst mit an, dein Zeug hier raus zu nehmen. 17 Euro kriege ich von dir. André baute sich drohend vor Micha auf, der ließ sich aber nicht einschüchtern. Ihre Augen kreuzten sich. Na, kommt jetzt Gewalt?, zuckte es durch Michas Hirn. Er würde es sich nicht gefallen lassen. Du Scheißtyp hast Glück, dass ich weiter muss. Gib mir mein Geld!, fauchte André. Die Fahrt kostet 10 Euro, erwiderte Micha. Du spinnst wohl!, fuhr ihm André ins Wort, so dass sich ihre Stimmen überschnitten. In der MfG Liste stehen alle mit 10 Euro drinnen, manche sogar mit 8 Euro. - Gib mir 15 Euro, du Kacktyp! Ich will weiter! Los, mach hin! Micha kramte aus seinem Portemonnaie 12 Euro hervor und ärgerte sich, auch noch darin nach zu geben. André grabschte sich das Geld, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand unter Flüchen und Beschimpfungen in seinem Wagen. Er musste warten, bis ihn Fahrer in der Straßenkolonne wenden ließen. Micha hingegen zog seine Koffer das Trottoir hinauf. Ein Mann sagte ihm, 500 Meter weiter sei eine Busstation.




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