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Zaitensprung
22. Mai 2008, Luzern, UH

Es war wieder ein Tiefschlag für Michael Weltens Selbstwertgefühl. Zur Debatte stand, dass er sich nicht mehr auf sich selbst verlassen konnte. Er machte Fehler, zu viele für seinen Geschmack. Es waren Flüchtigkeitsfehler, resultierend aus mangelnder Aufmerksamkeit und oberflächlicher, unkonzentrierter Betrachtung der Dinge. Sie summierten sich auf und produzierten im Zusammenspiel mit der ihn umgebenden Technik Handlungsabläufe, die, offensichtlich eigenständig, nicht mit den von ihm beabsichtigten Handlungsabläufen zusammen liefen. Zum Beispiel gestern, bevor er zur ZaZen Meditation ging, die Handy Geschichte: Es lag auf dem Teppich vor dem Sofa, während er sich die Clinton-Obama Debatte um Pennsylvania im US Wahlkampf 2008 im Internet ansah. Es meldete piepsend den Eingang einer Nachricht. Er unterbrach die Debatte, stand auf, ging zum Handy, sah sich die eingegangene SMS an. Es war ein Freund wegen einer Verabredung. Er legte das Handy auf den Tisch. Der Freund konnte mit einer Antwort warten.

Die Debatte der beiden US demokratischen Präsidentschaftskandidaten war spannend. Sie brachte ihm einige Aufschlüsse zu den USObamaClinton demokratischen Positionen bezüglich des Krieges im Mittleren Osten und Joschka Fischers „Strategy of Disengagement“. Hillary Clinton wollte innerhalb von 60 Tagen die US Truppen aus dem Irak abziehen. Wenn sie vor Jahren noch für die Irak Intervention gestimmt hatte, so machte sie mit solch einer Position eine Kehrtwendung um 180 Grad. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass der Rückzug der US Truppen die Irakische Regierung auf sich selbst stellen würde. Es wären dann eigene Kräfte, die einen demokratischen Irak trügen. Schafften sie es nicht, dann könnten auch US Truppen daran nichts ändern. Ihr Konkurrent Obama schien weitaus mehr den militärischen Bindungskräften nachzugeben. Michael Welten verstand aus dessen Englisch, dass er sich mit seinem allmählichen Rückzug 16 Monate Zeit lassen würde.

Obama formulierte vorsichtig nach Worten suchend seine Position gegenüber den iranischen Bemühungen Atomwaffen zu produzieren. Die Frage war, wie er sich als US Präsident verhalten würde angesichts einer atomaren Bedrohung Israels durch den Iran. Deutlich war zu spüren, wie er mit dem Finden von Worten versuchte, die USA frei zu halten, so dass es nicht nach einer zwangsläufigen Verkettung aussah, die die USA in einen Krieg stürzen würde. Mit solchen starren Wenn – Dann Kausalverkettungen hatte der Erste Weltkrieg begonnen und es galt als dumm, aus den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt zu haben. Ergo: Die Bedrohung und der Angriff Israels sei nicht auch gleich Bedrohung und Angriff der USA, aber doch die des stärksten Verbündeten der USA in dieser Region, was entsprechende Folgen haben würde. Hillary Clinton, als zweite Rednerin, konnte nun von einem Schirm sprechen, den die USA zum Schutz des Friedens aufspannen würden. Deutlich sprach sie aus, dass man den Iran nicht davon abhalten könne, sich Atomwaffen zu verschaffen. Obama hatte, wie die meisten mit diesen Fragen befassten Politiker, dies noch längst nicht eingestanden. Sie wandten sich noch immer gegen die atomare Bewaffnung des Iran. Hillary Clinton schien jedoch auf ein diplomatisches Einlenken des Iran zu setzen, so als ob weibliche Verführungskräfte, vordergründig als schwach, vage und unsicher erscheinend, weiter führen könnten als das männliche Abstreiten, Verbieten und Bekämpfen, das in die gegenwärtig festgefahrene Situation mit dem Iran geführt hatte. Gerade dadurch, dass sie sich dem Iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad verweigerte und ihn nimmer nie im Weißen Haus empfangen würde, gab sie ein mögliches Ziel iranischer Politik vor. Es könnte dem Iran und der Arabischen Welt als Sieg, als Genugtuung und Höhepunkt der Aushandlung eines Friedensverhältnisses erscheinen im Weißen Haus von ihr empfangen zu werden. Welten war gespannt, ob sich im weiteren Verlauf des Wahlkampfes die Iraner auf eine solche Politik einlassen würden oder irgendwie darauf reagierten.

Mittlerweile war es für Michael Zeit geworden, zur ZaZen Meditation zu gehen. Er schaute noch einmal kurz auf den Display des Handys, das anbei auf dem Tisch lag. Eine neue Nachricht war eingegangen. Er hatte gar nichts gehört, kein Piepsen für den Empfang einer SMS. Erstaunt realisierte er, die angezeigte Nachricht war die des Freundes. Er hatte sie zweimal bekommen, aber die erste war nicht mehr da. Komisch, dachte er, als wenn es ein Zeitsprung wäre. Dieselbe Nachricht las er zum zweiten Mal zum ersten Mal und das erste Mal? Wo war das geblieben? Er hatte das doch nicht geträumt, dass er vorhin die SMS bekommen und gelesen hatte. Er zweifelte an sich. Er hatte die erste Nachricht erhalten und nun war sie nicht mehr auf dem Display. Jemand hatte sie gelöscht, folgerte er. In seiner Vorstellung spürte er deutlich jemanden um sich her, der ihn beobachtete, den er aber nicht sehen konnte. Welche Erklärungsmöglichkeiten gab es? Erstens: Er war in ein Zeitloch gefallen. Wie in einem Science Fiction wiederholte sich dabei die Übermittlung der SMS, wobei die erste gelöscht wurde, weil sie vorzeitig, also in der Zukunft angekommen war. Zweitens: Jemand hatte per Satellit und mit ihm unbekannter Technik die erste Nachricht von seinem Handy gelöscht und die zweite ein zweites Mal auf sein Handy gesandt. Und Drittens? Das Göttliche um ihn her gab ihm wieder einmal zu verstehen, dass er ein kleines Menschlein mit vielen Fehlern war. Es sandte und löschte Nachrichten, um ihn zu verwirren und zu schauen, was er angesichts dieser göttlichen Kräfte mache, die über, durch und hinter der Technik und den bekannten Naturgesetzen wirken.

Nun, was sollte er tun mit diesem, was nicht sein konnte und dennoch geschehen war? Einfach darüber hinweggehen. Es war nicht weiter bedeutungsvoll und wichtig. Es war eine belanglose Alltäglichkeit. Das einzige Besondere daran war, das es nicht ging. Er konnte die Nachricht nicht zwei Mal zum ersten Mal bekommen haben. Jemand hielt ihn zum Narren, trieb sein Spielchen mit ihm. Das Pentagon. Sie spielten Gott mit ihm. Der Papst war gerade zu Besuch im Weißen Haus gewesen. Aber wieso ausgerechnet mit ihm? Das war doch Wunschdenken. Sein Unbewusstes wollte irgendwie mit von der Partie sein und inszenierte solche Geschichten. Er würde dann mit den großen Vorgängen in der Welt unmittelbar etwas zu tun haben. Noch immer stand diese Unmöglichkeit des Geschehens im Raum. „That’s to strong for me“, sagte er laut, weder feindselig aggressiv noch furchtsam um Gnade bittend. Er konnte nicht erkennen, ob es Menschen waren, die sich überhoben und ihr Spiel mit ihm trieben oder aber wirklich göttliche Kräfte oder schlicht einer seiner Aufmerksamkeitsfehler. Nur darum schwieg er und gab weder der einen Seite nach, auf jene zu schimpfen noch der anderen Seite, sie zu preisen und ihr in Dankbarkeit und mit aller Liebe zu huldigen, sich auf diese Weise gezeigt zu haben.

Er verließ das Haus, ging zu seiner ZaZen Meditationsgruppe und konnte es nicht lassen, von seinem seltsamen Erlebnis zu erzählen, jedenfalls soweit dies möglich war. Michael war klar, dass die Leute über ihn lachen mussten, erzählte er ihnen doch von einem seltsamen Erlebnis, dass so etwas wie das Wirken der Götter oder Außerirdischer oder des Pentagon in den Raum stellte und wahrscheinlich einzig auf einem erklärbaren Fehler beruhte.

Als er zurück nach Hause kam, machte er sich daran, die Geschichte aufzuschreiben. Dann nahm er das Handy noch einmal in die Hand. Er blätterte in den gespeicherten Nachrichten. Es waren zwei. Es war zwei Mal dieselbe Nachricht von seinem Freund eingegangen. Na also, die Sache war aufgeklärt. Er hatte die zweite übersehen. Man hatte ihn zu Recht ausgelacht. Er schämte sich. Dann kam ihm der Gedanke, wenn jemand in der Lage war, einen solchen Hokuspokus mit ihm zu veranstalten, dann wäre er auch in der Lage, dieselbe Nachricht in der Zwischenzeit noch einmal zu schicken: Und nichts wäre zu sehen und er stünde als verrückt da. Super. Guter Gedanke, nur wollte er auf diesem Irrealen bestehen? Nein, das war ihm zu unsicher. In diesem Moment, kaum hatte er das letzte Wort geschrieben, machte es lautlos Pling. Der Bildschirm verschwand, blauer Hintergrund mit weißen Zeichen, Systemzusammenbruch und schwarz der Bildschirm. Die Geschichte dieser seltsamen Vorgänge war weg. Sein Computer hatte das öfter: Pling, Systemzusammenbruch. In diesem Moment bezog er es jedoch auf das Geschriebene. Diese Vorgänge sollten nicht beschrieben sein. Das Handy piepste, eine Nachricht. Er öffnete sie: Nichts, ein leerer Display. Die Handynummer kannte er doch. Dann noch eine Meldung. Es war ein Fragezeichen. Die Nummer gehörte Thomas aus seiner ZaZen Gruppe. Er wollte ihm offensichtlich einwenig meditative Leere des ZaZen schicken. Wieder piepste das Handy, wieder war das Display leer, wieder ein Nichts. Er nahm es gelassen. Als er am nächsten Morgen den Computer wieder hoch fuhr und die Geschichte, die er am Abend geschrieben hatte, nicht einmal als Sicherheitskopie erhalten war, nahm er das auch gelassen. Er erklärte sich das ganz logisch als eine Verkettung von Zufällen, als ein Ineinandergreifen von technischen Abläufen und Fehlern, die mit seinem Denken und Handeln verbunden waren, beziehungsweise eben nicht.

 

Kommentare

Sabrina Moserbacher:

Der tragende Affekt in dieser Geschichte ist leider nicht in seiner ganzen Tiefe und Tragweite dargestellt und zwar weil sich der Autor offensichtlich nicht die Zeit nahm, diese einmalige Situation der Verwirrtheit – welch Wort für diesen göttlichen Zustand, in dem sich Michael Welten befand – darzustellen. Welten ergaben sich aus den situativen Zusammenhängen der Technik mehrere Realitätsmöglichkeiten. Für meinen Teil vermute ich, dass ihn durch das technische Ambiente als auch durch die Wahlkampfdebatte das US amerikanische Trauma der zwei in sich zusammenstürzenden World Trade Türme einholte. Die US Amerikaner spielen ihr Trauma und den Anlass zu ihrem arabischen Vergeltungskrieg immer und immer wieder durch. Für einen Europäer wie Michael Welten kann das dann solche Folgen haben: Systemzusammenbruch seiner Alltagsrealität mit den üblichen Folgen der Regression bis hinein in einen animistischen Bewusstseinszustand, in dem die Götter auf gleicher Stufe mit Menschen stehen, die mittels technischer und militärischer Überlegenheit absolute Kontrolle und Macht über das Leben, die Alltäglichkeit, ja, das Handeln und Wollen ausüben. Insofern liefert „Zaitensprung“ ein umfassendes Bild globaler Verhältnisse zu Anfang des 21. Jahrhunderts.

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